Bielefeld. Ein Job, eine Wohnung, ein Auto, das würde Ramazan reichen. "Mehr brauche ich nicht." Seit gut neun Jahren lebt der gebürtige Kurde in Sieker; in der
"Conti-Bronx", benannt nach einem ehemaligen Supermarkt, von dem nur der Name geblieben ist. Als Flüchtlinge kamen Ramazans Eltern nach Bielefeld – in ein Viertel, in dem Menschen aus 50 Nationen leben. Der 20-Jährige sucht noch nach dem Weg, dieser Betonturm-Tristesse zu entkommen. Gerade endete seine 60. Bewerbung um einen Ausbildungsplatz mit der 60. Absage.
Wo neutrale Beobachter sich von grauer Trostlosigkeit umgeben sehen, da pflegen die jugendlichen Bewohner ein ebenso inniges wie ambivalentes Verhältnis zu ihrem Stadtteil. Nicht nur Ramazan weiß, dass junge Leute aus dieser Bielefelder Bronx nicht die Perspektiven haben wie die meisten ihrer Altersgenossen aus Hoberge-Uerentrup. Aber Ramazan und seine Leute haben die "Conti-Bronx" zu einem Markenzeichen entwickelt. Wer von hier kommt, dem gebührt Respekt. Und wer nicht von hier kommt und sich schlecht benimmt, der kriegt Ärger: "Wir halten zusammen hier", sagt Ali, Ramazans Bruder.
Mitten in dieser explosiven Gegend leistet der Sozialdienst katholischer Frauen seit 32 Jahren soziale Brennpunktarbeit. Zum einen im Eva-Gabler-Haus, wo die Sozialarbeiter Kindern und Eltern helfen – und im Jugendhaus Elpke, das einst ein Container war und nun in einem mit Graffiti übersäten städtischen Gebäude am Rande der Elpke untergekommen ist. Hier Vertrauen zu etablieren, war nicht ganz leicht, wie Dorothee Köster berichtet. "Anfangs saßen die Jugendlichen mit ihren Butterfly-Messern bei uns an der Theke."
Ein Hausindex (keine Drogen, keine Gewalt, keine Waffen, kein Sexismus) und Zusammenarbeit mit der Polizei haben bewirkt, dass Prahlerei mit Softairwaffen nicht mehr der Grund für etwa 300 Jugendliche aus der Conti-Bronx ist, ihre Nachmittage und Abende im Jugendhaus zu verbringen. Eher kommen sie, um sich bei den Hausaufgaben oder beim Schreiben von Bewerbungen helfen zu lassen. Oder um mit den Kumpels zu kickern oder Billard zu spielen. "Hier gibt’s ja sonst nichts, wohin wir gehen können", sagt Ramazan. Auf gut 100 Quadratmetern im Jugendhaus Elpke stehen ein Kicker, ein Billardtisch, oder einige Computer bereit. Die Kleinen spielen bevorzugt an der Playstation, die Älteren pokern oder kniffeln.
Wenn irgendwo auf diesem Planeten Konflikte ausbrechen, Menschen verfolgt werden und flüchten, dann fließt ein Teil des Flüchtlingsstroms nach Sieker. "Wir merken das hier", sagt Köster. Mal steige die Zahl der irakischen Jugendlichen, mal die der afghanischen, und wer weiß, was als nächstes kommt. Köster und ihre Kollegen Daniela Brinkmann und Andree Hertel verstehen sich nicht als Betüddeler. Bezahlbare Nachhilfe, Kontakt zu Ämtern oder generelle "Einzelfallhilfe" sind Teile des Konzepts. Zur Lebenshilfe kommt geschlechtsspezifische Arbeit. Zu muslimischen Mädchen Kontakt aufzubauen etwa, sei allein wegen elterlicher Verbote häufig schwierig – ebenso umgekehrt die Arbeit mit aus Osteuropa stammenden Jungs, die sich rar machen im Jugendhaus.
Oberflächlich betrachtet, ist es ruhiger geworden in der Conti-Bronx.
"Natürlich herrscht hier ein rauer Umgangston. Respekt geben und bekommen, das zählt. Aber die Kriminalitätsrate im Viertel ist relativ klein", sagt Köster, und ihre Gäste pflichten ihr bei. So lange keiner von außerhalb kommt und Ärger macht, sei alles friedlich. Längst vergangen sei die Zeit der Straßenschlachten zwischen Russen und Türken. Wer heute hinter die Betonfassaden blickt, dem offenbart sich ein anderes Problem: häusliche Gewalt – eine Baustelle, auf der Polizisten wie Sozialarbeiter in der Regel wenig zu bestellen haben.
Jemand anderen haben beide intensiv beackert. Kein Wunder bei dieser Biografie: Erster Raubüberfall mit 14, Körperverletzung, zwei Mal Jugendknast in Herford. "Junitgunz" heißt natürlich nicht so, aber im Fall des gebürtigen Algeriers reicht der Künstlername, denn der ist Programm. Unter dem Pseudonym Junitgunz schreibt der 17-Jährige Raps, unter anderem über die Conti-Bronx, und die Musik soll sein Ausweg aus eben dieser sein. "Ich war einer der Besten in der Schule", sagt Junitgunz. "Dann habe ich meine Mutter verloren – und bin abgestürzt." Dieser Absturz, sagt er, sei nun beendet. "Ich will was erreichen."
Eine Chance, immerhin, hat er. Die Gagfah, Eigentümer der meisten Betontürme in dieser Siedlung, wird den Jugendlichen bald ein Musikstudio einrichten. Dort will Junitgunz unter Profi-Bedingungen seine Raps aufnehmen und aufsteigen vom derzeit lediglich auf Subkultur-Internetseiten vertretenen Rapper Junitgunz zum legitimen Nachfolger des Superstars 2Pac, dessen Antlitz die Wand über dem Kicker ziert.
Ob Ramazan auch so eine Chance bekommt? Koch will er werden, und er kämpft dafür – mit begrenzten Mitteln. "Wenn ich Bewerbungen schreibe, dann kaufe ich bei Karstadt die Bewerbungsmappen für einen Euro, nicht die für 50 Cent." Wenn eine Mappe fertig ist, zusammengestellt mit Hilfe der Sozialarbeiter im Jugendhaus, dann hat sie ihn acht Euro gekostet. "Aber ich bekomme vom Amt nur fünf zurück."
Und darum ärgert sich Ramazan, dass mancher Arbeitgeber die wertvolle Mappe einfach behält. "Wenn ich da anrufe, sagen die oft, sie hätten sie zurückgeschickt. Aber bei mir kommt nichts an." 60 Mappen, 60 Absagen – das zehrt nicht nur an den Nerven, das zehrt auch am Geldbeutel.
Ob Ramasa eher einen Ausbildungsplatz bekäme, wenn er nicht Ramasa hieße, sondern Uwe oder Thomas? Darüber wollte er eigentlich nicht reden, "es könnte ja jemand denken, ich hätte etwas gegen Deutsche". Aber nun, da die Frage im Raum steht, berichtet der 20-Jährige von einem Bewerbungsgespräch, an dessen Ende ihn ein potenzieller Arbeitgeber nach Hause schickte, weil sein kurdisch gefärbtes Deutsch nicht klingt wie das eines Eingeborenen. "Dabei will ich doch keine Aufsätze schreiben oder Vorträge halten", sagt Ramasa. "Ich will nur kochen. Und das kann ich."